Die seichten Wünsche der breiten Masse oder: Das Radio ist zur Bildung und Erziehung da! Aus der Frühzeit des Radios in Österreich 1924-1932.

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Author/Authoress:

Jochum, Manfred

Title: Die seichten Wünsche der breiten Masse oder: Das Radio ist zur Bildung und Erziehung da! Aus der Frühzeit des Radios in Österreich 1924-1932.
Year: 1996
Source:

Spurensuche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung, 1996, H. 1, S. 4-15.

„Im Anfang des Rundfunks war die Langeweile. Da sie in einer brillanten und reizvoll technischen Maskierung einherging (denn immer wieder blendete das technische Wunder), merkten sie nur wenige. Entsetzliche Dinge wurden damals getrieben. Das Musikprogramm wurde aus vermoderten Konzertsälen bezogen, Literatur aus der ‚Gartenlaube‘, der Vortragsteil legte Wert auf Sitten und Gebräuche der Minnesänger (unter dem Titel ‚Volksbildung‘), Legionen von Gurken wurden eingelegt (‚Für die Haufrau‘) (...)“1

Das schrieb 1930 rückblickend Hans Flesch, damals Intendant des Senders Berlin, und der Mann hatte recht. Radiohören muß grauenvoll und faszinierend zugleich gewesen sein. Grauenvoll, weil aus dem Kopfhörer – oder was sich damals so nannte – Rauschen, Brummen, Krächzen, von Wort- und Musikfetzen unterbrochen herauskam. Aber es war auch faszinierend zugleich – weil neu – und in der Tat verbesserte sich die technische Qualität sehr rasch. Es war am 1. Oktober 1924, zwischen 16. und 18.00 Uhr, daß aus dem obersten Stockwerk des Heeresministeriums in Wien, im Beisein von Bundeskanzler Seipel und Bürgermeister Seitz, die erste Sendung der RAVAG ausgestrahlt wurde. Ein Richard Wagner-Konzert der Künstlerkapelle Bert Silving. Schon am 9. Oktober gab es die erste Opernaufführung. „La serva padrona“ – mit Streichquartett und Klavier; am 3. November die erste Radiobühne „Der Ackermann und der Tod“ und bereits im August 1925 die erste Übertragung von den Salzburger Festspielen. Wenig später – am 5. Oktober wurde dann auch die Radio-Volkshochschule eröffnet.2

Um diese Zeit gibt es bereits mehr als 100.000 Rundfunkteilnehmer und Radio ist bereits so positioniert, wie es die ersten Jahre auch bleiben sollte.

MUSIK – LITERATUR – WISSENSCHAFT

Musik mit den Sparten Oper, Operette, Ernste Musik, Leichte Musik und Kinderstunde, Literatur mit den Sparten Radiobühne, Vorlesungen, Jugendstunde, Märchen und Wissenschaft mit den Sparten Wissenschaftliche Vorträge, Sprachkurse, Wanderndes Mikrophon (Reportage). Inhaltlich allerdings waren dem Programm zum Teil enge technische Grenzen gesetzt. Wie sollte man im Studio auch eine normale Orchesterbesetzung unterbringen, wenn schon allein das Aufstellen eines Klaviers [S. 4], den Platz für ein Streichquartett nahezu unmöglich machte? Im „literarischen Programm“ wieder wurden hauptsächlich „dramatische Fragmente“ aufgeführt, ferner Rezitationen und literarische Vorlesungen gebracht. Das „wissenschaftliche Programm“ schließlich, das für sich den Anspruch erhob, „nur erste Fachleute zu verpflichten“, die sich allgemeinverständlich ausdrücken könnten, um die Sendungen für die Hörer möglichst attraktiv zu gestalten, litt von allem Anfang an darunter, daß diese „ersten Fachleute“ vorerst nicht bereit waren, für das Radio zu arbeiten.3 So waren diese Programme anfangs vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sie Vorträge für Schrebergärtner und Kleintierzüchter brachten, über „Erste Hilfe bei Unfällen“ informierten und auf möglichst Unverfängliches aus Sport und Tourismus auswichen. Politische und religiöse Themen waren nicht erlaubt.4

„Der erste Radiovortrag, den ich hörte, fand bei einem Freund statt, der einen Lautsprecher hatte. Wir saßen auf dem Sofa, und der Lautsprecher sprach laut über: ‚Neue Wege in der Fabrikation künstlicher Öle und Fette.‘ Mein Freund erhob belehrend seinen Finger und sagte: ‚Es ist so, als ob er hier bei uns im Zimmer säße.‘ Gewiß, so war es, aber vielleicht mache ich mir gerade deshalb so wenig daraus. Denn ich verstehe unter einem Zimmer einen von allen Seiten abschließbaren, im Winter heizbaren Raum, in dem nicht über ‚Neue Wege in der Fabrikation von Ölen und Fetten‘ gesprochen werden darf.“5

Dennoch: nicht die Musik und nicht die Literatur, sondern die Wissenschaft bescherte Österreich den ersten „Radiostar“. Professor McCallum, der Englischlehrer der RAVAG, wurde in kürzester Zeit zum populärsten Radio-Liebling, was die Annahme von Prof. Dr. Leopold Richtera, dem ersten Leiter des „wissenschaftlichen Programms“ bestätigte, daß es primär auf die Persönlichkeit ankomme, ob eine Sendung Erfolg habe oder nicht.6 Es ist auch heute noch faszinierend, daß bereits drei Monate nach Start des neuen Mediums, die sozialdemokratische Programmzeitschrift „Radiowelt“ unter dem Titel: „Was wünschen Sie zu hören? – Programmgestaltung durch Volksentscheid!“ eine erste Umfrage unter ihren Abonnenten startete. Programmatisch heißt es da:

(Es geht darum) „das Volk der Radiohörer darüber abstimmen zu lassen: wie es ‚von oben‘ behandelt werden, was, wie, und wann es hören will? Und wir sprechen jetzt weder als Volk noch als Regierung: wir sprechen lediglich als Beflissene des Radiostaatsrechts, einer [S. 5] im Entstehen begriffenen jungen und zu schönen Hoffnungen berechtigenden Wissenschaft; wir träumen Fragmente aus dem Gesetzbuche des idealen Radiostaates. Paragraph eins: regiert wird mit Einverständnis der Regierten. Gesendet wird mit Einverständnis der Sendung-Empfänger. Sind Sie einverstanden mit der Sendung, die Sie empfangen, befriedigt Sie sie, ist es das, was Sie haben wollen, nach Qualität und nach Quantität? Ob ein einfaches Ja oder Nein, ob eine Reihe von Zustimmungen und Ausstellungen es ist, was Sie zu sagen haben, sagen Sie es, es ist Ihre Radiobürgerpflicht, nicht länger zu schweigen.“7

Der Stimmzettel listet 30 Sendungsgenres auf, die mit den Noten I (großes Interesse) bis VI (negatives Interesse) bewertet werden können. Einsendeschluß ist der 1. Jänner 1925. Die Ergebnisse werden im Mai 1925 veröffentlicht.

Qualifiziert man die Sendungsgenres nach der Kategorie I (größtes Interesse), gelangt man zu folgender Reihung:

1. Konzerte 63,84%
2. Zeitangabe 63,28%
3. Sprachkurse 58,84%
4. Wissenschaftliche Vorträge 57,28%
5. Humoristisches 53,14%
6. Unterhaltende Vorträge 48,64%

Die Negativskala VI (negatives Interesse) lautet:

1. Erbauungsstunde, Predigt 62,24%
2. Rennen 53,88%
3. politische Vorträge 52,41%
4. Börsenberichte 47,45%
5. Warenpreise 34,93%
6. Politische Nachrichten 34,40%

Die „Radiowelt“ schreibt zu diesem Ergebnis:

„(...) Das Fazit aber, der langen Rechnung kurzer Sinn ist dies: Keine Politik, keine Börse, keine Predigt! Die Gesellschaft der Radioamateure hat sich klar ausgesprochen: sie möchte von ihnen verschont bleiben, wenigstens im Radio. Im Negativen ist das Ergebnis unseres Plebiszits überhaupt scharf betont. Einige Geschmacksrichtungen des österreichischen Radioamateurs vom Anfang des Jahres 1925 (...) haben sich mit so plastischer Deutlichkeit ausgesprochen, wie wir es angesichts unseres für die allererste Statistisk absichtlich etwas undifferenziert gestellten Fragensystems nur erwarten durften.“8

Der Wiener Musiksoziologe Desmond Mark hat allerdings kürzlich in einer sehr kenntnisreichen und detaillierten Darstellung darauf hingewiesen, daß von dieser Befragung keine Rücklaufquoten bekannt sind, ihre Ergebnisse daher schon allein daher mit größter Vorsicht interpretiert werden müssen. Weiters ist zu berücksichtigen, daß durch diese Befragung vor allem die Wiener „Radioamateure“ angesprochen wurden, also eine Personengruppe, die bildungsmäßig sicherlich über dem Durchschnitt der Bevölkerung gelegen war, und daß diese Radiohörer der „Pionierzeit“ zumeist „technisch versierte und wissensdurstige Radiobastler und Amateure“ waren, „die mit dem Kultur- und Bildungsprogramm der RAVAG durchaus einverstanden waren.“9 Radio der Frühzeit, das war gerade für die Sozialdemokratie ein Instrument zur „Bildung der Massen“, zur „Emanzipation der Arbeiterschaft“ Aber auch für den „katholisch-konservativen“ Rudolf Henz, ab 15. Februar 1931 Leiter der „wissenschaftlichen Abteilung“ der RAVAG, war diese volksbildnerische Aufgabe des Radios von eminenter Bedeutung – wenn er sie auch differenzierter sah:

„Auch ich habe mir natürlich die Frage vorgelegt: ist der wissenschaftliche Rundfunk ein Volksbildungsmittel? Ich komme aus der Volksbildung und würde diese Frage gerne rückhaltlos bejahen; aber ich sehe, daß alle Schwierigkeiten hier wie überall aus den einseitigen Forderungen entstehen, die man an eine naturnotwendig vielseitige Sache stellt (...) Gerade [S. 6] die moderne, gestaltende Volksbildungsarbeit, die unser Leben in seiner Gänze erfaßt und sich nicht nur an unseren Verstand wendet, gibt uns hier die wertvollsten Hilfsmittel an die Hand.“10

Mit der Bestellung von Rudolf Henz11 gelingt der „wissenschaftlichen Abteilung“ der RAVAG ein qualitativ beachtlicher Sprung nach vor. Unter ihm, dem aus Proporzgründen (bis 1933) Dr. Fritz Brügel12 als Konsulent beigegeben wird, erweitert sich das wissenschaftliche Programm rasch. Henz führt den „Schulfunk“ ein, und kann unter anderem den Vorstand des Wiener Psychologischen Instituts Karl Bühler13 für eine Vortragsreihe gewinnen.

„Unter Dr. Rudolf Henz beginnt die RAVAG den Kurs des unfruchtbaren Neutralismus allmählich zu verlassen. Was noch unter der Leitung von Prof. Dr. Richtera fast unmöglich erschienen war, nämlich bei wissenschaftlichen Vorträgen moderne weltanschauliche Strömungen zu behandeln, wurde unter Dr. Henz zur Tugend. In Zusammenarbeit mit seinem ‚Konsulenten‘ Dr. Fritz Brügel wurden wichtige weltanschauliche Abhandlungen in das wissenschaftliche Programm – manchmal sogar zum Schrecken der jeweiligen weltanschaulichen Gegner – aufgenommen.“14

War dies der Grund – oder doch eher die wirtschaftliche Not – daß immer mehr Hörer in dieser Zeit um Stundung der Radiogebühren ansuchten oder sogar ihr Gerät abmeldeten? Die RAVAG reagierte darauf jedenfalls sensibel. Sämtliche HörerInnen, die im Laufe des Jahres 1930 ihr Radiogerät abgemeldet hatten – es waren dies ca. 25.000 – bekamen eine Fragekarte zugesandt, auf der sie ihre Abmeldung begründen konnten.

Die 6751 eingelaufenen Antworten wurden dem Psychologischen Institut der Universität Wien zur statistischen Auswertung und Interpretation übergeben.15 In der Zeitschrift „Radio Wien“ erschien dann auch eine erste Auswertung dieser Umfrage:

Es kündigen die Teilnehmerschaft:

  in Wien in den Bundesländern im Ganzen
1. Aus wirtschaftlichen Motiven 40,0% 43,3% 41,3%
2. Aus Gründen örtlicher Veränderung (Übersiedlung, Umschreibung auf anderen Namen etc.) 11,5% 15,4% 13,5%  
3. Aus Gründen der Zeiteinteilung 12,2% 11,8% 12,0%
4. Wegen Empfangsstörungen 10,2% 10,8% 10,6%  
5. Aus persönlichen Gründen (Krankheit, Tod, anderen Interessen) 10,6% 5,7% 8,5%  
6. Wegen des Programms 9,6% 5,4% 7,7%
7. Aus sonstigen Gründen 5,3% 8,6% 5,6%
8. Unklar 0,6% 1,0% 0,8%  

 

„Es ist doch sehr interessant, festzustellen, welch große Rolle die wirtschaftlichen Gründe bei der Abmeldung spielen, denn nicht nur in der ersten, sondern auch in allen anderen Motivgruppen wird noch häufig ein zweites wirtschaftliches Motiv erwähnt. Nicht jeder kann es sich vorstellen, daß zwei Schillinge – der Monatsbeitrag für die RAVAG – in der Wirtschaftsführung der einzelnen Familie eine Rolle spielen können, und doch ist es so, wenngleich die RAVAG in vielen besonders berücksichtigungswerten Fällen die Gebühr erlassen hat.

Neben der Abschaffung des Radios aus direkter wirtschaftlicher Not, finden wir auch eine Reihe von Fällen, in denen wirtschaftliche Notlage die indirekte Ursache der Abmeldung ist. So z.B. in Gruppe 4, wo wegen Empfangsstörungen abgemeldet wird. Es handelt sich hier meist um schlechte Apparate, die zu verbessern der Besitzer aus wirtschaftlichen Gründen nicht in der Lage ist. Man findet hier recht häufig mitgeteilt, daß, sobald wieder mehr Geld im Haus ist, ein neuer, besserer Apparat angeschafft werden soll. Rechnen wir nun noch die verschiedenen Fälle, in denen sonst wirtschaftliche Gründe neben einem anderen [S. 7]

Hauptmotiv, wie Todesfall oder Krankheit in der Familie oder Zeitmangel, eine Rolle spielen, so finden wir, daß in nahezu der Hälfte der Fälle (49.2%) wirtschaftliche Verhältnisse den Anlaß zur Abmeldung liefern.“16

Diese frühe wissenschaftliche Zusammenarbeit der RAVAG mit einem Universitätsinstitut wurde aller Voraussicht nach durch ein ausdruckspsychologisches Experiment initiiert, das Karl Bühler 1931 gemeinsam mit dem Unternehmen über mehrere Radiosendungen abwickelte.

„An drei verschiedenen Sendeabenden sollten insgesamt neun Personen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und Berufs, eine Suchmeldung über einen entlaufenen Hund vorlesen. Die HörerInnen wurden aufgefordert, aus den Stimmen verschiedene ‚Persönlichkeitsmerkmale‘ der SprecherInnen zu erraten. Ein paar Tage vor der Sendung erschien in der Programmzeitung ‚Radio Wien‘ eine Ankündigung des Experiments, mit dem zugleich ein entsprechender Fragebogen abgedruckt war.17

Am 19. Mai leitete Karl Bühler die Versuchsreihe mit einem kurzen Vortrag zum Thema ‚Stimme und Persönlichkeit‘ ein. Die weiteren Sendungen fanden dann am 21. und 23. Mai statt. Paul Lazarsfeld verlas jeweils die Instruktionen zur Handhabung des Fragebogens. Das Echo war erstaunlich groß; 2700 HörerInnen sandten ausgefüllte Fragebögen an die RAVAG zurück. In den folgenden Wochen statte Paul Lazarsfeld den LeserInnen der Zeitschrift ‚Radio Wien‘ Bericht ab: zunächst ‚enttarnte‘ er die anonymen SprecherInnen mit Fotos und einigen Angaben zu ihrer Person. In einem zweiten Artikel referierte er erste Ergebnisse einer großen statistischen Auswertung der Daten. Die Bearbeitung des Gesamtmaterials im theoretischen Zusammenhang mit Karl Bühlers Ausdrucks- und Sprachtheorie, erfolgte schließlich durch Herta Herzog, die mit dieser Studie ihr Doktorat in Philosophie erwarb.“18

Diese zweimalige erfolgreiche Zusammenarbeit mit der Wissenschaft, in Sonderheit mit dem Psychologischen Institut der Universität Wien, motivierte offensichtlich den Berater in der „wissenschaftlichen Abteilung“ der RAVAG, Ing. Paul Bellac19 dazu, seinerseits eine große Untersuchung über die Hörerwünsche zu initiieren. Logischer Partner war das Wiener Psychologische Institut, bzw. dessen „wirtschaftspsychologische Forschungsstelle“20 als deren Leiter Paul Lazarsfeld fungierte. Paul Lazarsfeld21 erinnert noch Jahrzehnte später an diesen folgenreichen Auftrag:22

„(...) Wir hatten am Psychologischen Institut der Universität Wien eine kleine ‚wirtschaftspsychologische Forschungsstelle‘. Das war eine Gruppe von Studenten und Assistenten, die sich sehr für Erhebungen interessiert hat, und die vom Chef Karl Bühler die Erlaubnis bekam, ein Kuratorium zu bilden, das solche Massenuntersuchungen finanziert hat. Etwa über die Arbeitslosigkeit,23 über die Berufswahl von Jugendlichen und auch über ‚kommerzielle Dinge‘.
Unter anderem hat uns ein Ingenieur der RAVAG, des damaligen Österreichischen Rundfunks gebeten, eine Hörererhebung zu machen. Es hat ihn interessiert, wer eigentlich [S. 8]

diesem Programm zuhört; und wir waren die natürlichste Gruppe, das zu machen. Das war eine sehr starke Neuerung, weil die ersten Untersuchungen und Experimente über Radio, sich mit etwas ganz anderem beschäftigt haben. Worüber man damals wirklich nachgedacht hat, das war die ‚körperlose Sprache‘; daß man plötzlich jemandem zuhört, den man nicht sieht – nicht auf der Kanzel und nicht im Lehrstuhl – und alle ersten Experimente waren daher am „visiblen Sprecher“ und am „invisiblen Sprecher“ orientiert. Das erste amerikanische Buch war Allports ‚Psychologie of Radio‘, und auch die Engländer haben Versuche gemacht; – und die Tatsache, daß wir durch Zufall nicht experimentiert, sondern eine Erhebung gemacht haben, hat dann später eine recht große Rolle gespielt.

Die Untersuchung ist im ‚Archiv für die gesamte Psychologie‘ erschienen, und ich bin noch immer verlegen, wenn irgendjemand sie entdeckt.24

Sie wissen ja z.B. alle, wie wichtig es ist, zu ‚sampeln‘, also die genau richtigen Leute zu befragen. Nun, wir haben das so gemacht, daß die Fragebögen in den Tabaktrafiken25 verteilt wurden und wer immer sie genommen und eingeschickt hat, der hat zum ‚sample‘ gehört. Oder: Sie wissen jetzt, daß es ganz genaue Maschinen gibt, wo man weiß, ob die Leute die erste Minute eines Programms hören, oder die fünfte Minute; wann sie also ihr Radio einschalten, das weiß man heute von Minute zu Minute.

Wir hatten drei Fragen: ‚Wann hören Sie am liebsten zu: Am Nachmittag, am frühen Abend, am späten Abend?‘

Das also war ungefähr das Niveau; aber tatsächlich war es eine Erneuerung. Und es war vorallem eine Erneuerung, die für mich sehr glücklich war, weil die Rockefeller-Foundation auf mich aufmerksam wurde und ich eine zweijährige Reiseeinladung nach Amerika bekam. Unterdessen sind hier im Februar 1934 einige Unannehmlichkeiten vorgekommen, die mich betroffen haben und ich bin nicht mehr zurückgekehrt (...)“. „Der Fragebogen umfaßte vier Seiten mit insgesamt 65 Sendungsrubriken und mehreren Zusatzfragen.

Von den 50 Sendungskategorien im engeren Sinn, nach deren Beurteilung gefragt wurde, bezogen sich 14 auf die Musik, davon neun auf die sogenannte ‚E-Musik‘ und 5 auf die ‚U-Musik‘. Neun Fragen betrafen die Literatur, 23 die ‚wissenschaftlichen Vorträge‘ und vier die ‚aktuellen Übertragungen‘. Weiters wurde nach dem Interesse an Sprachkursen, Kinder- und Jugendsendungen, bevorzugten Sendezeiten, Instrumentalspiel und Instrumentalunterricht und schließlich nach ‚Besonderen Wünschen und Meinungen‘ gefragt.

Der hohe Anteil an wissenschaftlichen Themen im Programm, die Erwähnung von Sprachkursen etc. sind ein Hinweis auf die wichtige Bildungsfunktion, die der Rundfunk in diesen Jahren erfüllte und die ihn zu einer Art elektronischer Volkshochschule der Nation machten.“26

Rudolf Henz äußerte sich Jahrzehnte später zu dieser Befragungsaktion durchaus ungenau:

„Es war noch nicht die Gallup-Zeit. Hunderter- oder Tausender-Interviews genügten uns nicht. Unsere Befragung mit großen Fragebogen zu vier Seiten ging an alle. Über 25% der zahlenden Hörer taten mit. Als nach einem Jahr die Auswertung (durch Studenten des Psychologischen Instituts) der 110.000 ausgefüllten Fragebogen vorlag, fand sich das Hörspiel vor dem Reisevortrag und dem Operettenkonzert. Die größte Zustimmung erhielten die ‚Bunten Abende‘, die größte Ablehnung erfuhr die ‚Kammermusik‘“27

Die RAVAG zog aus der Untersuchung unmittelbare und entscheidende Konsequenzen:

„Die gewonnenen Ergebnisse haben auf die Programmgestaltung des österreichischen Rundfunks entsprechenden Einfluß genommen, denn sie bilden eine Bekräftigung der Tendenzen, die im heurigen Winterhalbjahr bei der Einteilung der einzelnen Darbietungen im Gesamtprogramm maßgebend sind. Die frühen Abendstunden, die von der großen Menge der Rundfunkhörer als besonders bevorzugte Zeit [S. 9]

angesehen werden, sind – dem Wunsche der überwiegenden Mehrheit aller Hörer entsprechend – wenn irgend möglich, mit Darbietungen leichter und unterhaltender Art besetzt. Erst anschließend werden ernstere Kunstwerke geboten, um auch den Wünschen der intellektuellen Kreise voll entsprechen zu können. Seitdem das Abendprogramm, also die wichtigste Hörzeit in seiner Einteilung den Wünschen nach leichter und schwerer Rundfunkkost durch entsprechende Verteilung Rechnung trägt, haben die Klagen aus den Hörerkreisen ungemein nachgelassen, ein Zeichen, daß hier der richtige Weg beschritten wurde.“28

Mit Recht konnte also der Historiker und nachmalige Intendant von Studio Wien, Ernst Glaser bemerken:

„Die Folgerungen, die man in der RAVAG aus den Ergebnissen dieser Hörerbefragung zog, waren beachtlich. Die Beantwortung der Fragebogen hatte ergeben, daß sich die Interessenssphären der verschiednen Berufs- und Altersgruppen nicht decken und in einem einzigen Programm auch nicht abdecken lassen. Man müsse daher die Hörer dazu anregen (...) nicht wahllos zu hören, sondern zu selektieren.“29

Ungefähr die Hälfte aller Einsender gaben zusätzlich zum Fragebogen noch Kommentare in Briefform ab, die natürlich nicht statistisch verwertet werden konnten, aber deren Bearbeitung und Auswertung angekündigt wurde. Leider ist dieses wertvolle Material offensichtlich verlorengegangen, sodaß man auf die wenigen Hörerkommentare angewiesen ist, die in der Studie selbst bzw. in deren Anhang zitiert werden. Auch sie aber liefern ein farbiges Bild der damaligen HörerInnenlandschaft.

 

Inhaltlich gliederten sich die Briefe folgendermaßen:

1. Sendezeit 30%
2. Allgemeine Programmkritik 25%
3. Allgemeine Zustimmung zum Programm 8%
4. Technische Klagen 12%
5. Spezielle Programmwünsche 25%

 

zu 1: „Über 10 h abends Radio zu hören, ist vielen nicht möglich wegen Beleuchtung und Beheizung“.

„Da hört man sich langweilige Kammermusik an, dann, wenn Abendkonzert kommt, ist es schon so spät, daß man mit einem Fluch das Radio abdreht.“

„Gleichzeitig komme ich im Namen vieler Fürstenfelder mit dem Ersuchen, die Sinfoniekonzerte an Sonntagen nach Tunlichkeit ausschalten zu wollen. Der Sonntag ist der einzige Tag in der Woche, an dem es einen gegönnt ist, den ganzen Tag Radio zu hören, da möchte man doch gerne eine zu Gemüte gehende leichte Wiener Musik hören, die einen aufheitert.“

zu 2 und 3:

„Geben Sie doch um Himmels Willen keine schwere Musik (Sinfoniekonzerte, Kammermusik etc.). Warum keine Abende des Lachens, der Fröhlichkeit in der jetzigen jammervollen Zeit? Die die Menschen das Radio noch ganz anders schätzen lassen würden?“

„Das Radio ist zur Bildung und Erziehung da. Lassen Sie sich nicht durch die seichten Wünsche der breiten Masse beeinflussen. Der Österreicher wird sagen: ‚da kann man nix machen‘, und wird doch hören.“

„Wir waren früher fleißige Theatergeher, aber bei den jetzigen Zeiten hat sich das aufgehört, wie froh sind wir über unser Radio! Meinen Dank für so schöne Abende!“

„Für alle, die jetzt ihre Beschwerden einbringen werden, gibts nur eines: man soll ihnen einen kleinen Griff an ihrem Apparat zeigen, den Hebel zum abstellen. Die Ravag bringt für jeden etwas und das muß man sich aussuchen.“

zu 4:

„In der Jakominigasse ist der Verkehr der Straßenbahn besonders rege, besonders zwischen 20 und 22 h, da hört man ein Knattern und Krachen im Lautsprecher, hört jedes Fünkchen und das Rauschen der Gleitbügel mit derartiger Stärke, daß der Empfang davon mit kurzen Unterbrechungen vollkommen unterdrückt [S. 10] wird (...) Ich würde den Radioempfang missen, wenn ich das Abonnement kündige, aber doch lieber kein Empfang, als täglich Ärger und schließlich doch kein Empfang.“

zu 5: „Die Vortragenden möchten nicht rasch herunterleiern. wenn man etwas lernen will, kommt man nicht mit.“ „Wenn aus eignen Werken vorgetragen wird und der Vortragende gar kein Talent zum Sprechen hat, soll es lieber der Sprecher vorlesen.“30

Wie kommt es nun, daß diese Studie – eine Fundgrube für Medienforscher – zwar immer wieder zitiert, aber durch Jahrzehnte nicht gelesen werden konnte, weil sie als verschollen galt. Niemand weiß das wohl besser zu erzählen, als Paul Neurath, Schüler und Mitarbeiter Lazarsfelds und Begründer und Leiter des Wiener Lazarsfeld-Archivs. Es ist fast ein wissenschaftshistorischer Krimi, über den Paul Neurath zu berichten weiß.

„Es begann damit, daß, nachdem Paul Lazarsfeld 1976 gestorben war, ich versucht habe, im Einverständnis mit seiner Witwe Patricia Lazarsfeld, eine Sammlung seiner sowohl gedruckten als auch seiner unpublizierten Arbeiten zusammenzubringen, besonders der letzteren, weil solches ja besonders schwierig ist. Das ganze hat sich durch etwa zwei Jahre hingezogen, denn es waren ja hunderte von Schriften - ich wußte gar nicht wie viele das waren. Ich habe also durch etwa zwei Jahre seinen gesamten Nachlaß, sowohl in seinem eigenen Arbeitszimmer an der Columbia-University wie bei ihm zuhause durchgegangen und schließlich alles beisammen gehabt.

Ungefähr um diese Zeit, nach eineinhalb bis zwei Jahren, nachdem ich bereits alles durchgearbeitet hatte, kam eines Tages ein Brief von Frau Professor Noelle-Neumann vom Institut für Demoskopie in Allensbach, an Frau Patricia Lazarsfeld, mit der Bitte, ob sie eine Kopie des RAVAG-Berichts 1932 haben könnte.

Patricia Lazarsfeld hatte überhaupt keine Ahnung was das war, schrieb aber sofort zurück, daß der einzige, der darüber überhaupt etwas wissen könnte, Paul Neurath sei.

Also schrieb Noelle-Neumann mir. Ich hatte natürlich auch keine Ahnung, worum es sich dabei handeln könnte, hatte dieses Manuskript bestimmt nie gesehen, obwohl ich den gesamten Lazarsfeld-Nachlaß in der Hand gehabt hatte.

Noelle-Neumann hat mir aber zur Orientierung jenen Vortrag geschickt, den Paul Lazarsfeld im Jahr 1974 in Salzburg gehalten hatte, und in dem er aus dieser RAVAG-Studie zitiert und zwar gleich seitenweise.31

Und er tut dies, weil er die Methodik der RAVAG-Studie 1932 in Österreich mit dem vergleicht, was danach in Amerika passiert ist. Und dabei sagt er so nebenbei hin: ‚Glücklicherweise habe ich noch eine Kopie des Berichts von 52 Maschinschreibseiten‘.

Daraufhin habe ich buchstäblich beide Räume – das Arbeitszimmer an der Columbia-University und das Arbeitszimmer in der Wohnung nochmals von oben bis unten, Blatt für Blatt durchgesehen, das waren Tage und Tage und Tage Arbeit und ‚alles für die Katz‘!“

Die Bemühungen, in den Wiener ORF-Archiven eine Kopie dieser legendären Studie zu finden, verlaufen ebenso erfolglos, wie Neuraths Versuche, bei ehemaligen Mitarbeitern aus der wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle vielleicht doch noch ein Exemplar aufzutreiben. Aber so wie manchmal in einem Krimi, kommt auch Paul Neurath „Kommissar Zufall“ zu Hilfe. Im Frühjahr 1988 trifft er in New York zufällig Dr. Ann Pasanella, Paul Lazarsfelds Mitarbeiterin bei seinen letzten beiden Büchern und seiner letzten großen Untersuchung.

„(...) und die sagt mir, daß sie gerade aus ihrem Columbia-Office ausziehen müsse. ‚Ich hab‘ da noch ein paar Kartons von Lazarsfeld-Material, das ich natürlich der Universität übergebe‘ – an der Columbia-University ist Lazarsfelds wissenschaftlicher Nachlaß aufbewahrt – ‚magst Du Dir das anschauen, vielleicht ist etwas für Dein Wiener Archiv dabei‘ [S. 11]? Ich bin gleich nächsten Tag an die Columbia-University gesaust, stehen dort drei oder vier Kartons voll Material, und ich hab‘ mich schon bereit gemacht für eine große Sucherei. Dr. Pasanella kann nicht Deutsch – gottseidank – und hat deshalb ein deutsches Manuskript ganz oben hingelegt, vielleicht weiß ich, was das sein kann?‘ ‚Bericht über die Hörerbefragung im Radio‘, 52 Maschinschreibseiten. Da hab‘ ich gewußt. Jetzt haben wir ihn endlich!“32

An dieser Studie ist einiges bemerkenswert:

1. „Die vermutete historische Priorität der Wiener empirischen Medienforschung wird durch eine Analyse der internationalen Rundfunkliteratur bestätigt.“33

2. „Weil Lazarsfeld nicht nur Medienforscher, sondern Sozialwissenschafter mit breit angelegten Interessen und Kompetenzen war, war es für ihn schon vor (mehr als) 60 Jahren selbstverständlich, daß der Umgang mit Medien als soziales Handeln zu betrachten ist, dem ein subjektiver, beispielsweise auf das Verhalten der Kommunikatoren rückbezogener Sinn unterliegt. Diese Einsicht ist der Publizistikwissenschaft später größtenteils verlorengegangen und muß heute mühsam wiedergewonnen werden, als sei sie eine Errungenschaft des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts.“34

3. „Schon in diesen ersten Anfängen der empirischen Rundfunkforschung tritt das dialektische Spannungsverhältnis zwischen den volksbildnerischen Bestrebungen des Senders und der Realität der Hörerwünsche zutage, das sich heute zum Konkurrenzkampf zwischen dem ‚Kulturprinzip‘ der öffentlich-rechtlichen und dem ‚Marktprinzip‘ der kommerziellen Medienanstalten zuspitzt.“35

4. Die allerdings nur kurze Zeitspanne von 1932 bis März 1933 scheint nach all dem das Optimum an Übereinstimmung zwischen dem Programm der RAVAG und den Wünschen der Hörer aufzuweisen. Sie war die Periode, in der die Berücksichtigung pluralistischer Haltungen in jeder Hinsicht im Rundfunk am meisten Anerkennung gefunden hat und auch die erfreulichsten kulturpolitischen Wirkungen von dem neuen Medium ausgegangen sind.“36

Nicht Populismus also, sondern Pluralismus haben dem jungen Medium Radio in Österreich einen kulturpolitisch so bedeutenden Platz eingeräumt. Daß dieser Platz durch die politischen Ereignisse 1933 und 1934, vorallem aber 1938 verlorengegangen ist, ja mehr noch, bewußt ausradiert wurde; und im Gegenteil das Radio zu einem Instrument der Ideologie und Indoktrination herabgewürdigt wurde, das ist schon wieder ein anderes Kapitel... [S. 12]

 

Anmerkungen:

1 Zit. bei Peter Dahl, Radio. Sozialgeschichte des Rundfunks für Sender und Empfänger, Reinbek 1983, S. 113.

2 Viktor Ergert: „50 Jahre Rundfunk in Österreich.“ Salzburg 1975, Bd. I, S. 41ff.

3 So berichtet Rudolf Henz, der seit 1931 die „wissenschaftliche Abteilung“ der RAVAG leitete: (Auch) „Herrschaften der zweiten Garnitur waren selten bereit, auch nur eine Zeile ihres Manuskripts zu opfern. Und einer dieser kleinen Gelehrten meinte sogar: ‚Wenn ich mich klar und allgemeinverständlich ausdrücke, bin ich bei meinen Fachkollegen unten durch‘.“ (Ergert, a.a.O., S. 71)

4 Viktor Ergert, 50 Jahre Rundfunk, a.a.O., S. 71ff.

„Das Verbot politischer und religiöser Themen wurde ziemlich streng interpretiert, und so kam es zwangsläufig zu einer fast totalen Abkehr der wissenschaftlichen Vortragstätigkeit des Radios von allen aktuellen Strömungen des Geisteslebens. Die Themen beschränkten sich demnach auf historische und technische Gebiete.“

5 Radiokritik im „Berliner Tagblatt“ vom 31. Dezember 1931; zit. bei Peter Dahl, Radio, a.a.O. S. 116.

6 Viktor Ergert, 50 Jahre Rundfunk, a.a.O., S. 72.

7 Radiowelt,1924, H. 41, S. 7.

8 Radiowelt,1925, H. 19, S. 1f.

9 Desmond Mark, Entstehungsgeschichte, kulturelles Umfeld und Rezeption der RAVAG-Studie von 1932. In: ders.(Hrsg.), Paul Lazarsfelds Wiener Ravag-Studie 1932. Der Beginn der modernen Rundfunkforschung, Wien 1996, S. 76ff.

10 Rudolf Henz in Radiowelt, 20. März 1931, S. 3; zit. bei Desmond Mark, Entstehungsgeschichte, kulturelles Umfeld, a.a.O., S. 76f.

11 Rudolf Henz (1897 - 1987). Schriftsteller, Volksbildner, Radiopionier; Vertreter eines prononcierten politischen Katholizismus. 1932 - 1938 Leiter der „wissenschaftlichen Abteilung“ der RAVAG; 1945 - 1957 Programmdirektor, danach bis 1971 Mitglied des Aufsichtsrats und des Programmbeirats. 1947 - 1958 Präsident der Katholischen Aktion, 1967 - 1980 Präsident des Österreichischen Kunstsenats. Österreichischer Staatspreis für Literatur 1953.

12 Fritz Brügel (1897 - 1955). Leiter der Bibliothek der Wiener Arbeiterkammer, zählt „zu den klügsten Köpfen im Bereich der austromarxistischen Kunst- und Kulturkritik“ (E. Glaser). Autor der Texte „Die Arbeiter von Wien“ und „Februarballade“. Emigriert 1933 zunächst nach Prag und dann über Frankreich nach England, wo er in den Dienst der tschechischen Exilregierung tritt. Nach 1945 als Mitglied der KP - Chef der tschechischen Militärmission in Berlin. Nach seinem Bruch mit der KP, Emigration von der Tschechoslowakei nach England.

13 Karl Bühler (1879 - 1963) studierte in Freiburg, Berlin, Straßburg und Bonn Medizin und Philosophie, habilitierte sich 1907 in Würzburg mit einer Arbeit über die „Psychologie der Denkvorgänge“; wurde Professor in München und Dresden und erhielt 1922 einen Ruf nach Wien. Gemeinsam mit seiner Gattin Charlotte Bühler (1893 - 1974), die 1929 in Wien eine Professur erhielt, widmeten sie sich vorallem der experimentellen Psychologie bzw. der Kinder- und Jugendpsychologie. Karl Bühler wurde 1938 verhaftet und in den dauernden Ruhestand versetzt. Er emigrierte über Schweden nach den USA, wo er an verschiedenen Hochschulen arbeitete. Charlotte Bühler, die von 1939 - 1945 in London lehrte, erhielt dann in den USA einen Lehrstuhl für Psychiatrie. Beide kehrten nicht mehr nach Österreich zurück.

14 Viktor Ergert, 50 Jahre Rundfunk, a.a.O., S. 123f.

15 Vgl. Desmond Mark, Entstehungsgeschichte, kulturelles Umfeld, a.a.O. S. 80f., und Gerhard Benetka, Psychologie in Wien. Sozial und Theoriegeschichte des Wiener Psychologischen Instituts 1922 - 1938, Wien 1995, S. 203.

16 Lotte Radermacher (Psychologisches Institut der Wiener Universität), Warum Hörer ihre Teilnehmerschaft aufgeben. In: „Radio Wien“, 1931, H. 47, S. 3.

17 In der im H. 33/1931 von „Radio Wien“ unter dem Titel: „Was erraten wir aus der menschlichen Stimme?“ abgedruckten Ankündigung, wurde das Experiment wie folgt beschrieben: „Am 19., 21. und 22. Mai werden jeweils drei Leute einen Text durchs Radio verlesen, und die Hörer sollen jeweils folgendes von den Sprechern anzugeben versuchen: Geschlecht, Alter, Beruf, wobei unter Beruf vor allem zu verstehen ist, ob es sich um einen Menschen in führender Lebensstellung handelt, und dann ungefähr, was er sein könnte. Es wird weiter gefragt, ob die Stimme sympathisch ist und wie der Sprecher aussieht. Unsere nächste Frage zielt auf die allgemeine Sicherheit des Sprechenden ab. Ist er geeignet, andere zu führen, anzuleiten oder umgekehrt: ist er unselbständig und darauf gestellt, sich anleiten zu lassen. Ob die Stimme sympathisch oder unsympathisch ist, soll jeder nach seinem Gutdünken entscheiden. Beim Aussehen soll es so gemacht werden: Wir unterschieden im groben: ob groß, ob klein, ob dick, ob dünn (hager) und empfehlen für Fälle, wo man den Eindruck hat, der Sprecher dürfte zu der breiten Mittelgruppe der Menschen unseres Schlages gehören, das Urteil ‚m‘ (mittel) (...) Wenn jemand noch allgemeine Bemerkungen machen will, dann möge er sie auf einem eigenen Blatt beifügen; wir sind dafür sehr dankbar.“ Zit. bei Gerhard Benetka, Psychologie in Wien, a.a.O., S. 301f.

18 Gerhard Benetka, Psychologie in Wien, a.a.O., S. 202.

19 Ing. Paul Bellac (1891 - 1975) war seit Ende 1928 Chefredakteur der Programmzeitschrift „Radio Wien“, der offiziellen Zeitung der RAVAG. Von 1931 - 1938 war er Abteilungsleiter des „wissenschaftlich-volksbildnerischen Programms“. Von 1945 - 1957 Programmdirektor.

20 Paul Lazarsfeld, ursprünglich Gymnasiallehrer für Mathematik kam Anfang des Jahres 1930 - und nicht wie er selbst später berichtete 1927 - als „informeller Institutsassistent“ an das Psychologische Institut, wo er über eine Art Stipendium aus Mitteln der Rockefeller-Stiftung bezahlt wurde, über die Karl und Charlotte Bühler seit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre verfügen konnten. Erst ab Jänner 1931 wurde er bis zum Sommer 1933 „von der Unterrichtserteilung an Mittelschulen“ für die Mitarbeit am Bühler-Institut zur Gänze freigestellt.(Benetka, Psychologie in Wien, a.a.O. S. 201) Lazarsfeld selbst berichtet über diese Zeit und den Beginn der „wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle“:

„Ich führte auch Veranstaltungen in Sozialstatistik und psychologischer Statistik durch. Damals bekam ich eine kleine Vergütung, die mir jedoch in keiner Weise erlaubt hätte, meine Stelle am Gymnasium aufzugeben. Trotzdem spürte ich immer stärker den Wunsch, ganz zum Psychologischen Institut überzuwechseln und, etwa um das Jahr 1927, faßte ich schließlich den Plan, in dem Institut eine Abteilung für Sozialpsychologie zu errichten. Das würde mir ermöglichen, so rechnete ich mir aus, Auftragsforschungen durchzuführen und auf diese Weise mit einen kleinen, aber für den allgemein niedrigen Lebensstandard ausreichenden Einkommen zu leben. Diese Idee nahm dann Gestalt an in Form eines unabhängigen Forschungszentrums (Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle, eine Bezeichnung, die allgemein die Anwendung der Psychologie auf soziale und wirtschaftliche Probleme ausdrückt), als dessen Präsident Karl Bühler fungierte. Von da an leitete ich die angewandten Studien dieses Zentrums, führte Veranstaltungen an dem Universitätsinstitut durch und betreute Dissertationen. An dem Forschungszentrum arbeitete eine Reihe von Studenten, deren Dissertationen auf Datenmaterial aus dem Zentrum aufbauten.“ Paul Lazarsfeld, Eine Episode in der Geschichte der empirischen Sozialforschung. In: T. Parsons/E. Shils/P. F. Lazarsfeld, Soziologie autobiographisch, Stuttgart 1975, S. 147-225; zit. bei Benetka, Psychologie in Wien, a.a.O., S. 200.

21 Paul F. Lazarsfeld (1901 - 1976) gilt als Begründer der sogenannten „Zweistufenhypothese der Kommunikation“, nach der die über die Massenmedien verbreiteten Informationen oftmals zunächst von sogenannten „Meinungsführern“ aufgenommen werden. Diese Personen geben dann die Informationen gefiltert, interpretiert oder verstärkt weiter und beeinflussen somit das Verhalten und die Einstellung ihrer weniger informierten Mitmenschen. Weniger bekannt ist, daß P. L. in seiner Wiener RAVAG-Studie diejenigen methodologischen Grundzüge entwickelt hat, die später für die gesamte Massenkommunikationsforschung in den USA entscheidend werden sollten. Mit Recht kann man also sagen. daß die Weichen für die weltweite Entwicklung der Kommunikationsforschung in den Massenmedien und ihrer Methoden im Wien der dreißiger Jahre gestellt wurden.

22 Anläßlich der siebenten Salzburger Humanismusgespräche, die unter dem Titel „Die elektronische Revolution. Öffentliche Kommunikation und Sprache in der Mediengesellschaft“ standen, hielt P. L. am 24. 10. 1974 den Vortrag: „Wie groß ist der Einfluß der Massenmedien? Zum gegenwärtigen Stand der sogenannten Wirkungsforschung.“ Obwohl auf diesem „todernsten Kongreß“ (u.a. nahmen daran Elisabeth Noelle-Neumann, Harry Pross, Friedrich Knilli, Karl Steinbuch, Anton J. Zijderveld, Arnold Gehlen und Hermann Lübbe teil), einzig P. L. sich „konsequent und wohlgelaunt“ von der pessimistischen Beurteilung der Medien distanzierte, und seine mit „souveränem Humor“ vorgetragene Rede, sich wohltuend abhob, in dieser Runde der „schwarzsehenden Beobachter“, (Edwin Hartl in der „Presse“ vom 29. Oktober 1974) hat der ORF diese Rede nie gesendet. Je eine Tonbandkopie liegt allerdings seit 1996 in den Lazarsfeld-Archiven in New York und Wien.

23 Marie Jahoda/Hans Zeisl, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langdauernder Arbeitslosigkeit, Leipzig 1933 (Neuaufl. Frankfurt am Main 1978)

24 Dieser Hinweis von P. Lazarsfeld ist nicht exakt. In der Tat veröffentlichte Gertrud Wagner im Archiv für die gesamte Psychologie, 1934, H. 90, S. 157 - 164, unter dem Titel: „Die Programmwünsche der österreichischen Radiohörer“, einen kommentierten Auszug aus der Studie von insgesamt acht Seiten und begründete dies wie folgt: „Das psychologische Institut Wien hat zusammen mit der Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle eine Massenerhebung über die Programmwünsche der österreichischen Radiohörer durchgeführt, die wegen ihres großen Umfanges und der dabei verwendeten Methoden, wert ist, auch von Fachpsychologen zur Kenntnis genommen zu werden.“ Unverändert wiederabgedruckt wurde dieser Beitrag in: „Österreichisches Jahrbuch für Kommunikationswissenschaft“, Wien 1987, Bd. 4, S. 231-238. Erstmals komplett publiziert wurde die Studie von Desmond Mark im Jahre 1996 (!)

25 Auch hier erinnert P. L. nicht mehr genau: Die Fragebögen wurden auch den einschlägigen Programmzeitschriften wie z.B. „Radio Wien“ oder „Radiowelt“ beigelegt und erreichten damit auch ihr primäres Zielpublikum. Allerdings dürfte es durchaus auch Schwierigkeiten bei der Verteilung gegeben haben, denn P. L. zitiert im Anhang der Studie einen Brief, in dem es heißt: „Ich danke bestens für die Fragebogen, die ich nun endlich bekommen habe. Wenn mir Bogen übrig bleiben, gebe ich sie der Trafikantin, die auch so jammerte, daß die Kunden sie überlaufen wegen Fragebogen und sie keine mehr bekomme. Für die nächsten Male wäre eine bessere Beschickung nötig.“

26 Desmond Mark, Entstehungsgeschichte, kulturelles Umfeld, a.a.O., S. 82f.

27 Viktor Ergert, 50 Jahre Rundfunk, a.a.O., S. 125. Tatsächlich war es so, daß 36.000 Fragebogen zurückgesandt wurden, mit durchschnittlich drei antwortenden Hörern - exakt 110. 312. Grundsätzlich, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung wollten alle HörerInnen weniger Kunst- und Literaturvorträge als bisher, umgekehrt wünschten alle mehr leichte Musik, mehr heitere Literatur und mehr Vorträge mit möglichst spektakulärem Inhalt.

28 Radio Wien, 1932, H. 6, S. 5.

29 Ernst Glaser, Die Kulturleistung des Hörfunks in der Ersten Republik. Wissenschaftliche Kommission des Theodor-Körner-Stiftungsfonds und des Leopold-Kunschak-Preises zur Erforschung der österreichischen Geschichte der Jahre 1918 – 1938, Wien o.J. (1982); zit. bei Desmond Mark, Entstehungsgeschichte, kulturelles Umfeld, a.a.O., S. 86.

30 Anhang zur Lazarsfeldstudie 1932. Im Faksimile wiedergegeben bei Desmond Mark, Entstehungsgeschichte, kulturelles Umfeld, a.a.O., S. 32ff.

31 Paul Lazarsfeld, Zwei Wege der Kommunikationsforschung. In: Oskar Schatz (Hrsg.), Die elektronische Revolution, Graz 1975. Dieser Aufsatz von P. L. unterscheidet sich allerdings gravierend von seiner „gesprochenen Fassung“ anläßlich der „Salzburger Humanismusgespräche 1974“.

32 Beitrag von Paul Neurath anläßlich der erstmaligen Präsentation der RAVAG-Studie im Wiener Funkhaus am 16. April 1996. Einen Bericht darüber, gestaltet vom Verfasser dieses Artikels und Bernhard Pelzl, brachte der ORF im „Medienjournal“ am 19. 4. 1996, im Programm Österreich 1.

33 Desmond Mark, Entstehungsgeschichte, kulturelles Umfeld, a.a.O., S. 102.

34 Horst Pöttker, E-Musik und ihr Publikum. Frühe quantitative Untersuchungen von Paul F. Lazarsfeld und Theodor Geiger. In: Irmgard Bontinck (Hrsg.), Wege zu einer Wiener Schule der Musiksoziologie. Konvergenz der Disziplinen und empirische Tradition, Wien 1996, S. 16; zit. Desmond Mark, Entstehungsgeschichte, kulturelles Umfeld, a.a.O., S. 97.

35 Desmond Mark, Entstehungsgeschichte, kulturelles Umfeld, a.a.O., S. 102.

36 Ernst Glaser, Die Kulturleistung des Hörfunks in der Ersten Republik, a.a.O., S. 65.

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