Autor/in: | Reich, Emil |
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Titel: | Dreißig Jahre Volkshochschule Wien Volksheim |
Jahr: | 1931 |
Quelle: | Mitteilungen der Volkshochschule Wien Volksheim, 3. Jg., Nr. 10 (16. Feber 1931), S. 1-2. |
[S. 1] Vierzehn Jahre nach der Gründung des Volksbildungsvereines in Wien entstand über Anregung der Hörer Professor Stöhrs in den volkstümlichen Universitätskursen das Volksheim. Ludo Hartmann faßte im Mai 1900 mit mir den Plan, in Friedrich Becke erkannten wir den geeignetsten Obmann und in ungetrübter Einigkeit leiteten wir drei die Vorarbeiten, wie dann mehr als zwei Jahrzehnte die neue Schöpfung, deren Geburtstag der 24. Feber 1901 war. Für Arbeiter und Angestellte gedacht, darum vom Anbeginn neben Universitätsprofessoren zehn Gewerkschaftsführer, darunter Karl Seitz und Albert Sever, im Ausschuß zählend, stand das Volksheim stets allen Lernfreudigen ohne Unterschied des Berufes, des Geschlechtes oder der Partei offen. Behördliches Vorurteil konnte ihm damals den Namen Volkshochschule verbieten, aber nicht verwehren, eine hohe Schule des Volkes zu werden.
Am 25. April 1901 eröffneten wir an der Grenze der alten und neuen Bezirke, am Urban Loritz-Platz 5 im Tiefparterre die Lehrtätigkeit mit 27 Kursen; sofort waren wir genötigt, das Hochparterre dazu zu mieten. Gleich im ersten Jahr wurde das erste Tausend an Hörern erreicht. Der unermüdlichen Tatkraft Hartmanns war es zumeist zu danken, wenn auf dem Ende 1903 erworbenen Grundstück in Ottakring ein Jahr später die Grundsteinlegung und am 5. November 1905 die Eröffnung des großen, eigenen Hauses am Koflerpark erfolgen konnte, nun mit Fug nach ihm Ludo Hartmann-Platz umbenannt. Es war das erste Volkshochschulhaus; für 2000 berechnet, muß es nun 6000 dienen, seit nach Beendigung des auch von uns mühsam durchgehaltenen Weltkrieges eine Sturmflut von Hörern sich hineinergoß. Unser schon im Kriege gefaßter Entschluß neue Volkshochschulen zu errichten, konnte zwar nicht durch eigene Häuser, aber durch Einräumung des Mitbenützungsrechtes in Schulgebäuden verwirklicht werden: im Jänner 1920 in der Leopoldstadt, im Oktober 1922 in Simmering, im Oktober 1924 auf der Landstraße, im Oktober 1925 in der Brigittenau. Seither zwang Geldmangel, von weiteren Neugründungen abzusehen, obzwar sich unsere fünf Häuser bewährten. Mußten wir doch das Sommervolksheim in Prigglitz nach 17 Betriebsjahren wieder auflassen, müssen uns bei größter Sparsamkeit überall einschränken. Gleichwohl war es unumgänglich, so schwer uns diese Erwerbung auch gerade jetzt belastet, im Dezember 1930 das an unser Ottakringer Haus angrenzende Grundstück zu kaufen, sollte nicht für alle Zukunft der dringend nötige Zubau unmöglich werden. Zwischen 10.000 und 12.000 schwanken seit acht Jahren unsere Hörerziffern, rund 400 Kurse (15 mal so viel wie am Beginn) finden in jedem Halbjahr statt. Die Volkshochschule Wien Volksheim hat in 30 Jahren etwa 150.000 Wiener in Wissenschaft und Kunst eingeführt und ausgebildet. Sie hätte mehr als doppelt so vielen Kulturbringerin werden können, wären ihre materiellen Mittel nicht ebenso kärgliche, wie ihre geistigen reichliche. Ihre Verwaltung war unparteilich demokratisch, Lehrer und Hörer wählen gesondert den Ausschuß, überdies jeder Kurs seine Vertrauensperson, diese in jedem Haus darauf eine Hausvertretung, die gleichfalls im Gesamtausschuß sitzt.
Der Unterricht umfaßt alle Fächer von der Volksschule bis zu solchen, die sonst nur an der Universität und Technik gelehrt werden. Er vergißt nicht jene, denen bloß halbvergessene Kenntnisse einer Landschule eigen, berücksichtigt zumeist die Vorbildung einer städtischen Hauptschule, bietet aber in mehrjähriger Schulung reiche Wissensvermehrung allen, deren ernstes Interesse in den Abendstunden einzuholen trachtet, was Glücklicheren hellere Jugendtage bequem darboten. Die letzte Ausbildung geben die Fachgruppen als engere Arbeitsgemeinschaften bereits Vorgeschrittener; ihre ersten Ansätze sind fast so alt wie das Volksheim, ihre Zahl und Bedeutung wuchs immer mehr, nun soll bald die 30. entstehen. Hier finden sich die Eifrigsten zusammen und leisten in selbstständiger Tätigkeit oft Überraschendes. Was nach dem Umsturz im Deutschen Reich als neues Ziel der Erwachsenenbildung verkündigt wurde, im Volksheim war es längst begonnen, zum Teil schon erreicht. Auch die Kurse des Gesamtvereins nähern sich vielfach Arbeitsgemeinschaften und legen hohen Wert auf persönliche Besprechungen zwischen Lehrenden und Lernenden.
Stets hatten wir die Auswahl zwischen Lehrbereiten, konnten die Geeigneten auswählen aus den Lehrkörpern der Volks- und Hauptschulen, der Gymnasien, Realschulen, Handelsakademien, der Technik, aller Fakultäten der Universität, ferner Ärzten, Ingenieuren, Rechtsanwälten, Richtern, Sprachlehrern. Denn auch die Fremdsprachen bilden ein beachtenswertes Gebiet unserer Betätigung, bei dem nie nur um praktisch Verwertbares, ständig auch um Erkenntnis fremder Volksart gerungen wird. Von Recht- und Schönschreiben, von elementarem Rechnen und anderen grundlegenden Fächern, auch Fertigkeiten, reicht unser Arbeitsplan bis zu den schwierigsten Fragen der Einzelwissenschaften. Die alle Probleme umspannende Philosophie wird sogar besonders bevorzugt, ebenso Psychologie und Pädagogik; auch die Staats- und Rechtswissenschaften, Medizin und Kunstwissenschaft werden gepflegt. [S. 2] Urgeschichte, Weltgeschichte, Literatur- und Musikwissenschaft, Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Technik, Biologie, Zoologie, Geographie, Völkerkunde umfaßt noch der wissenschaftliche Unterricht durch bewährte Kräfte, denen wir nicht genug dankbar sein können, da sie selbstlos und bereitwillig ihre wertvollen Fähigkeiten unseren Hörern bei recht geringfügigem Entgelt hingebungsvoll widmen. Kunstübung (wie Zeichnen, Malen, Stimmbildung, Chorgesang) und körperliche Ausbildung (im Turnen und in rhythmisch-gymnastischen Übungen) wird nicht vernachlässigt. Lehrausflüge, sowie Führungen in Museen, Kirchen, Kunstausstellungen, industrielle Betriebe ergänzen das Kursprogramm. Einzelvorträge (mit Lichtbildern) behandeln besondere Fragen und mahnen an Gedenktage.
Sammlungen und das chemische Laboratorium, das experimentell-psychologische, das physikalische, das naturhistorische, das kunstwissenschaftliche Kabinett bieten zumal im Haupthaus weitgehende Möglichkeiten fachwissenschaftlicher Ausbildung und Betätigung. Auch eine Schrebergartenkolonie besteht. Rechtshilfestellen erteilen unentgeltliche Auskünfte. Lesezimmer erschliessen Zeitschriften und Bücher. Eine umfangreiche Bücherei besitzt nicht nur das Haupthaus, auch die Fachgruppen haben da im eigenen Wirkungskreis oft Vorbildliches geleistet, wie auch in Übungen und Sondervorträgen. Eine Kinderlesehalle blüht in Ottakring. Theatergruppen vermitteln Karten. Die Buchhandlung Volksheim bietet Erleichterung bei Beschaffung der Lehrmittel und sonstiger Werke während der Kurszeit. Studienberatung erfolgt in jedem Haus in den Sprechstunden der Sekretäre. Denn längst wuchs der Geschäftsumfang viel zu stark an, um wie in der ersten Zeit von Freiwilligen, dann von einem Sekretär allein bewältigt werden zu können. Die Oberleitung hat nun erfolgreich Generalsekretär Dr. Czwiklitzer inne. Neben unseren verdienten Angestellten stehen Hörer als Ordner zur Verfügung. Auch die Kunst findet (zumeist am Sonntag) besondere Pflege, in Vorträgen von Dichtern und Schauspielern, in Konzerten und Tanzvorführungen, bei denen berühmte Namen nicht mangeln, das Hauptgewicht aber auf künstlerische Bildung durch Erschließung weitgespannter Überblicke gelegt wird.
Haben die erworbenen Kenntnisse vielen im Beruf zu besonderer Stellung verholfen, so war dies ein Nebenprodukt unserer nicht aufs Praktische zunächst eingestellten Volkshochschule, für die ebensowenig wie für die Universität Erwerbsmöglichkeiten das Hauptziel sein dürfen. Allen wurde das Volksheim eine Stätte seelischer Aufrichtung, ein Haus der Sonne in dunklen Tagen. Charakter und Willen kräftigen sich da im Verkehr mit Gleichstrebenden. Nicht Gelehrte, doch Belehrte wollen wir heranbilden; nicht Bekehrte trachten wir zu erziehen, sondern in eigener angestrengter Denkarbeit Bewährte. Die Freiwilligen der Bildung wenden sich uns zu; ihr freies Wollen achtend, beraten wir sie ohne sie zu bevormunden. Wir weisen diesen Volksstudenten Wege, damit sie selbst ihren Weg wählen. Immer wurden wir von materiellen Schwierigkeiten bedrängt und bedrückt, nie sind wir ihnen unterlegen. Wir wagen es sogar, jährlich tausende Arbeitslose vom kleinen Hörerbeitrage zu befreien. Von Wien ging die deutsche Volkshochschulbewegung aus, Wien war oft ihr Vorbild. Darum hoffen wir, auch diesen harten Zeiten gewachsen zu bleiben. Auf jede Festfeier wollen wir verzichten, aber ins vierte Jahrzehnt den heißen Glauben an den Volkshochschulgedanken hinübertragen, der uns 30 Jahre beseelte. „Und droht der Winter noch so sehr, es muß doch Frühling werden“. Für diesen Frühling besserer Menschheitszukunft, freiwilliger Solidarität, brüderlicher Gerechtigkeit arbeiten wir. Auch künftig bleibe bei Lehrern und Hörern der kameradschaftliche Sinn, das reine Streben, das Bildungsverlangen die geistige Lebensluft der Volkshochschule Wien Volksheim.
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